30 Jahre nach dem Suizid ihrer Mutter will die Künstlerin Jackie mit ihrer Kunstfigur "Jack Torera" die tabuisierte und dunkle Geschichte in ihrer Kindheit aufdecken, die ihr Leben und ihre Kunst geprägt, aber ihre Familie in der Schweiz und in Spanien gespalten hat. Indem er filmische Konventionen sprengt, zeigt 'Las Toreras' die Kraft, die in der Konfrontation und Auseinandersetzung von Familientabus liegt und die Bedeutung von Kunst als Vehikel für Verständnis und Versöhnung.
Der Schweizer Dokumentarfilm LAS TORERAS (102min, schweizerdeutsch/spanisch) ist der erste Langfilm der Schweiz-spanischen Regisseurin, Autorin, Künstlerin und Musikerin Jackie Brutsche (aus Zürich, lebt in Bern). Am 2.Oktober 2023 feierte der Film am Zurich Film Festival die Weltpremiere (Focus Wettbewerb) und gewann den "Emerging Swiss Talent Award" (Kritikerpreis) sowie den "Filmpreis der Züricher Kirchen". Der Schweizer Kinostart in der Deutschschweiz war am 16. November 2023. Der Film gewann den The Mercurius Prize, war als bester Dokumentarfilm 2024 für den Schweizer Filmpreis nominiert und gewinnt den Berner Filmpreis. Die Preisverleihung findet am 18. November 2024 im Zentrum Paul klee statt.
In «Las Toreras» gehe ich der bruchstückhaften und verborgenen Geschichte meiner spanischen Mutter Carmen auf den Grund. Vor über 30 Jahren nahm sie sich das Leben, ich war damals zehn Jahre alt. Dieser frühe Schicksalsschlag hat meinem Leben eine Richtung gegeben und in meiner Kunst habe ich einen positiven Umgang damit gefunden und konnte daraus schöpfen. Ohne die ganze Geschichte selber zu kennen, sie offenzulegen oder dem Publikum zumuten zu wollen. In meiner Familie hat man nie mehr über meine Mutter und ihre psychischen Probleme gesprochen, Schuldzuweisungen lagen in der Luft und heiklen Themen ging man aus dem Weg. Irgendwann blockierten mich die vielen offenen Fragen und ich wollte nicht länger im Unwissen leben und meine wichtigste Geschichte verbergen. Mit diesem Film wollte ich mit der schmerzlichen Wahrheit umgehen und zeigen, dass es sich lohnt - auch Jahrzehnte später - sich ihr zu stellen.
Es war ein langer Prozess bis ich verstand, wessen Geschichte ich erzählen musste. Lange standen der Suizid und die tragische Lebensgeschichte meiner Mutter im Vordergrund, genauso wie im richtigen Leben: Es sind verborgene, unverarbeitete Familiengeheimnisse, die nächste Generationen überschatten und sie daran hindern, ihre eigene Geschichte zu kennen und zu erzählen. Ich realisierte, dass ich meine positive Geschichte im Umgang mit dem Schicksal meiner Mutter mit meiner Kunst erzählen musste, um mich ihrer tragischen Geschichte anzunähern. In meinem Film kann man nachspüren, wie ich aus diesem Schatten hervortrete, wie ich von einer Unwissenden zu einer Wissenden und Übermittlerin von schmerzlicher Wahrheit werde und wie ich und meine Familie damit umgehen.
Die Entdeckung meiner Familiengeschichte und die damit verbundene Reise waren überwältigend. Meine Familie zeigte viel Offenheit und mehr Direktheit als erwartet. Ich wurde mit absurden, schweren Vorwürfen gegen meinen Vater konfrontiert und mit gegensätzlichen Ansichten darüber, wie meine Mutter unglücklich und krank wurde. Nach den Interviews kehrte ich mit Unmengen von Erinnerungsfetzen und Geschichten nach Hause zurück, wild durcheinander erzählte Varianten ihres Lebens. Es begann eine akribische Detektivarbeit: das Sortieren und Einordnen von Unmengen an Informationen anhand von Tagebüchern und Briefen in eine chronologische Zeitleiste, auf der Suche nach Erklärungen und der Wahrheit.
Aber ich erkannte, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Unzählige Einflüsse, Entscheidungen, Umstände, Zufälle und Verbindungen formen das Leben. Dieses komplexe Zusammenspiel ergibt für jeden mit einer anderen Perspektive eine andere Geschichte und Wahrheit. Im Film war es mir wichtig diese Komplexität zuzulassen und dem Publikum zuzumuten. Wir Menschen suchen oft nach einfachen Erklärungen in einer äusserst komplexen Welt. Es erfordert Mut und anhaltende Anstrengung, die eigene Meinung ständig zu hinterfragen und anzupassen, unter der Annahme, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern vielleicht so viele wie Menschen. Eine offene und nie abgeschlossene Betrachtung ist entscheidend, um Geschichte zu verarbeiten und zu verstehen, um Tabus zu überwinden und Konflikte zu lösen.
Mit diesem Film war es mir sehr wichtig, den Menschen hinter der psychischen Krankheit zu zeigen, was Betroffene durchmachen und wie sich die schwer fassbare und stigmatisierte Krankheit schleichend auf ihren Lebensweg und ihr Umfeld auswirkt. Während meiner Recherchen erlangte ich ein tiefes Verständnis für psychische Erkrankungen. Menschen wie meine Mutter mit wahn- und zwanghaften Störungen entwickeln oft ein großes Misstrauen gegenüber ihren engsten Angehörigen, die sich um sie kümmern. Sie sehen diese zum Beispiel als Einsperrer oder Feinde die sie in Kliniken stecken oder zwingen, Medikamente zu nehmen, weil die Betroffenen von ihnen abhängig sind. In Verbindung mit den Schilderungen meines Vaters und Mutters Texten, wurde mir das Bild der spanischen Verwandten endlich erklärbar. Die psychische Erkrankung meiner Mutter hatte durch Unwahrheiten einen unentdeckten Scherbenhaufen in meiner Familie hinterlassen, den ich in Ordnung bringen musste.
Im Laufe der Arbeit an diesem Projekt habe ich auch viel Schönes über meine Mutter erfahren und erkannt, dass uns mehr verbindet als mir bewusst war. Die Kreativität, die Willensstärke und der Wunsch nach Unabhängigkeit waren bei ihr genauso vorhanden wie bei mir. Doch waren ihre Möglichkeiten zur Entfaltung viel eingeschränkter als meine. Ich werde nie vollständig wissen, wer meine Mutter wirklich war und was mit ihr geschehen ist. Am Ende ist dieser Film meine persönliche Interpretation ihrer Geschichte, basierend auf vielen Puzzleteilen, die ich zu einem möglichst wahrheitsnahen und sinnvollen Bild zusammengefügt habe. Doch ich habe erkannt, dass viel wichtiger als die genaue Wahrheit zu kennen, die Tatsache ist, dass ich auf diesen Weg gehen konnte, dass ich den Mut aufgebracht habe, die Fragen zu stellen und mir meine eigene Meinung zu bilden. Auf diese Weise konnte ich Carmens Geschichte abschliessen und ihr einen würdigen Platz in diesem Film geben. «Las Toreras» sind unsere beiden Geschichten die zusammenkommen: Zwei mutige Frauen, die gegen das Unglück kämpfen und ihr Schicksal an den Hörnern packen.
Die Auseinandersetzung mit meiner Mutter und ihrer Geschichte brachte mir, meiner Familie und Nahestehenden sowohl Erkenntnis als auch Versöhnung. Es war ein Prozess der Verarbeitung, des Loslassens und des Abschliessens, ein Weg des Verstehens und des Respekts vor Carmens Lebensgeschichte, die uns alle geprägt und berührt hat. Durch meine Familiengeschichte hoffe ich, in komprimierter Form das zwischenmenschliche Universum des Menschen darzustellen – unseren Umgang miteinander, unsere Tabus und die gesellschaftlichen Zwänge und Erwartungen. Ich hoffe, dass der Film Menschen und Familien mit unverarbeiteten Geschichten helfen und inspirieren kann, sich auf diese Reise zu begeben. Und ich erhoffe mir, dass mein Film eine Ermutigung darstellt, sich bewusst mit den Schattenseiten des Lebens auseinanderzusetzen, denn da gibt es nicht nur zu verlieren, sondern auch viel zu gewinnen.
"Las Toreras" ist bei Weitem das persönlichste und bedeutendste Werk in meinem bisherigen Leben. Es brachte schmerzhafte und fantastische Erfahrungen gleichermassen mit sich, die mich alle bereichert haben. Ich habe unglaublich viel gelernt und bin überaus dankbar für diese einzigartige Chance und die wertvolle Reise. Diese wäre ohne das Vertrauen meiner Familie, meines Umfelds und die immense Unterstützung und das Durchhaltevermögen der Produktion und der Filmcrew nicht möglich gewesen.
Jackie Brutsche
Jackie Brutsche, 1977 geb. in Zürich, wohnt seit 2005 in Bern, Tochter von Carmen.
Paul Brutsche, lebt in Zürich, Vater von Jackie, Ehemann von Carmen.
Juan Pablo Brutsche, lebt in Zürich, älterer Bruder von Jackie, Sohn von Carmen.
Carla Brutsche, lebt in Basel, Tante von Jackie, Ehefrau vom Bruder von Jackies Vater.
Berthe Stark, lebt in Basel, Tante von Jackie, Schwester von Jackies Vater.
Eloisa Andrés-Sanchez, lebt in Murcia, Tante von Jackie, ältere Schwester von Carmen.
Angel Andrés, lebt in Granada, Jackies Onkel, älterer Bruder von Carmen.
Juan José Andrés, lebt in Alicante, Jackies Onkel, jüngster Bruder von Carmen.
Jack Torera. Kunstfigur von Jackie Brutsche, die auch in Theaterstücken, Bands und Filmen auftritt.
Carmina. Verkörperung von Jackies Mutter. Die weisse Maske ist ein wiederkehrendes Motiv in Jackies Kunst.
"El monstruo", das Monster. Figur gezeichnet von Jackies Mutter Carmen Brutsche Andres, das ihre psychische Krankheit darstellt.
Titel: LAS TORERAS
Genre: Dokumentarfilm
Länge: 102 Minuten
Sprache: Schweizerdeutsch, Spanisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch
Produktionsformat: HD
Screening-Format: DCP 1.85:1, 25fps, Quickt
Ton: Digital 5.1
Drehorte: Schweiz, Spanien
Release Schweiz: 16. November 2023
ISAN: 0000-0004-B677-0000-W-0000-0000-F
Website Film: www.lastoreras.ch
Website Produktion: https://rectv.ch/
Website Verleih: www.filmbringer.ch
Website Medienkontakt: www.prosafilm.ch